Exzesse! Antifa-Pop & DDR-Folk

neues-deutschland.de / 18.03.2016 / Feuilleton / Seite 13
Quelle: https://www.neues-deutschland.de/artikel/1005587.exzesse.html

Exzesse!
Antifa-Pop & DDR-Folk

Thomas Blum

Gewöhnlich zuckt man ja angstvoll zusammen, wenn man davon hört, dass es einen neuen Soli-Musiksampler aus der antifaschistischen Szene geben wird, weil man das Übliche erwarten darf: baskischen Zwei-Akkorde-Autonomenpunk, unbeholfen gereimte Revolutionsaufrufe, mehr schlecht als recht vertonte Flugblatttexte und die vierundsiebzigste Coverversion von »Bella Ciao«. Doch hier ist erfreulicherweise mal alles anders: musikalisch abwechslungsreich, politisch nicht banal, modern im besten Sinn. Vertreten ist auch die Band Pisse mit einem Remix ihres Gassenhauers »Scheiss-DDR«: »’89 war’s soweit / Ach, was wart ihr alle frei / Alle auf zum Flüchtlingsheim / Jeder haut ’nen Molli rein.« (Bevor die ersten Beschwerden eintrudeln: Kurz darauf mutiert der Refrain zu »Scheiss-BRD« bzw. »Scheiss- Europa«.) Versammelt sind auf der Compilation aber auch Tracks von alten Bekannten wie Knarf Rellöm, Feine Sahne Fischfilet, Dirk von Lowtzow (»Fuck you, Frontex«) und Egotronic, die in ihrem schönen Titel »Deutschland, Arschloch, fick dich« feststellen: »Deutsche tun, was Deutsche eben tun / Verwerten, töten, unterjochen / Keine Zeit, um auszuruhen / Es gibt noch viel zu unterdrücken«. Jedenfalls ist bei der Formgebung der Lieder die Absicht, »Jugendliche durch die Übersteigerung der Beat-Rhythmen zu Exzessen aufzuputschen« (E. Honecker, 1965), unverkennbar.
Im beiliegenden Booklet wird der Hörer in kompakter Form über die Gründe für das Erscheinen dieser Compilation informiert: Neben anderen Dokumenten findet sich etwa ein historischer Abriss der im Lauf der Jahre immer menschenfeindlicher gestalteten deutschen Asylpolitik und eine knappe Aufschlüsselung der diversen rechten Akteure, von den Neonazis bis zu den AfD-Spackos. Und, um das Wichtigste hier nicht zu vergessen: »Die Verkaufserlöse werden selbstorganisierten antirassistischen Initiativen und Gruppen im ländlichen Raum zur Verfügung gestellt!« Leuten also, die sich ehrenamtlich engagieren, um ein kleines Zipfelchen Zivilisation in Gegenden aufrechtzuerhalten, in denen der Dumpfsinn sich immer rasender ausbreitet.
Wem das alles zu modern ist, für den gibt es aber auch etwas: Die Musikarchäologen vom rührenden Label Bear Family Records haben einen Blick auf den eigenwilligen Musikgeschmack des einstigen Zentralrats der FDJ geworfen und längst versunkene musikalische Perlen der Hootenanny- und Folk-Bewegung der DDR der 60er Jahre wieder ans Tageslicht geholt. Auf der Compilation werden die musikalischen Umtriebe im Umfeld des Kommunisten Perry Friedman dokumentiert. Wertung: Im zentralen Leistungsvergleich beider CDs schneiden alle zwei sehr gut ab.

V.A.: »Refugees Welcome – Gegen jeden Rassismus« (Springstoff / Ventil-Verlag)
V.A.: »Hootenanny in Ostberlin« (Bear Family / In-Akustik)